PODCAST „Die Zugehörigkeitsidentität“ 30.12.2021
Spätestens seit dem Zeitpunkt als vor etwa fünf Jahren die Regierung der deutschsprachigen Gemeinschaft (DG), jener Institution der belgischen Verfassung, welche die neun Gemeinden des deutschen Sprachgebiets in Belgien umfasst, sich anschickte, diese Gemeinschaft in Zukunft „Ostbelgien“ zu nennen und dies als „Marke“ schützen zu lassen, war wohl jedem bewusst, dass die Identität der deutschsprachigen Belgier nach dieser offizieller Lesart als Zugehörigkeitsidentität zum belgischen Staat zu betrachten ist.
Diese Zugehörigkeitsidentität ist allerdings nicht meine Sichtweise dieser Identität, denn die Zugehörigkeit zu einem Staatsgebilde kann nicht das entscheidende Element für die Identität einer größeren Bevölkerungsgruppe sein. Die Identität einer Bevölkerungsgruppe wird aber weniger von der Zugehörigkeit zu einem Staat bestimmt, als vielmehr durch andere Elemente wie gemeinsame Geschichte, die gemeinsam erlebte Kultur und vor allen Dingen der gemeinsam gesprochenen Sprache.
In den letzten zwanzig Jahren stellen wir aber fest, dass diese Zugehörigkeitsmentalität im Osten Belgiens von großen Teilen der Bevölkerung immer deutlicher das öffentliche Leben der Gemeinschaft bestimmt und von einer besonders ausgeprägten „belgitude“ gekennzeichnet ist, die sich gleichzeitig und zusätzlich in einer nahezu schon verklärenden Haltung gegenüber dem belgischen Königshaus, dem König und der Dynastie äußert. Auch der „Tag der Gemeinschaft“ wurde auf den Tag der Dynastie gelegt, nicht aber auf den 23. Oktober, dem Tag der Einsetzung des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft, der ersten Institution der anerkannten Gemeinschaft der belgischen Verfassung. Die Haltung der belgitude erkennt man auch äußerlich daran, dass in vielen Gärten und privaten Gebäuden, die belgische Fahne dauerhaft gehisst wird und keineswegs die offizielle Flagge der deutschsprachigen Gemeinschaft, mit der man sich offensichtlich nicht identifiziert. Hinzu kommt, dass man sich als deutschsprachige Belgier bezeichnet, oder neuerdings auch als deutschsprachige Ostbelgier, oder, wie eine Regionalabgeordnete meint, sogar als deutschsprachige Wallonen.
Das alles geschieht nur deshalb, weil man das Wort deutsch scheut wie der Teufel das Weihwasser und dies obschon man jahrhundertelang eine gemeinsame deutsche Geschichte erlebte und auch über die deutsche Hochsprache und die deutschen Mundarten und Dialekte der deutschen Kulturgemeinschaft angehört. Von all dem ist allerdings bei der Identitätsfindung der deutschsprachigen Bevölkerung nichts zu merken, sie beschränkt sich ausschließlich auf die Zugehörigkeit zu Belgien.
Dabei möchte ich noch einmal bekräftigen, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg niemand gegeben hat, weder eine Organisationen, noch eine Partei oder ein Bürger, der die Zugehörigkeit zu Belgien öffentlich in Frage gestellt hat oder stellt. Das erscheint auch in Anbetracht der sich ständig entwickelnden europäischen Einigung als nicht zeitgemäß. Aber eine eigene Identität hat man bisher nicht gefunden, auch wenn die Politik und sogar mancher Historiker dies anders sehen mag.
Die Identität auf die Zugehörigkeit zu beschränken ist deshalb falsch. Im Laufe der Geschichte des Siedlungsraums zwischen Maas und Rhein vor den Toren der freien Reichsstadt Aachen, an der Schnittstelle zweier Kulturen und damit verbundener Hochsprachen, hat es die unterschiedlichsten Zugehörigkeiten gegeben, weshalb man dies nicht auf die Geschichte der letzten hundert Jahre seit 1920 einengen kann. Man kann zurückgehen auf die Zeit der Kelten und der Römer, denen dieser Raum zugehörig war, man kann die Franken bemühen und deren Dynastien der Merowinger (Pippin) und Karolinger (Karl der Große), man kann ab etwa dem Jahr 1020 die Grafschaft und das Herzogtum Limburg bemühen, oder ab 1288 auch das Herzogtum Brabant. Unsere Zugehörigkeit wechselte auch ständig in den Jahrhunderten danach. Mal herrschten über unsere Heimat die Burgunder, mal die österreichischen Habsburger, dann die spanischen Habsburger und erneut die österreichischen Habsburger, mit zuletzt Maria Theresia. Immer gehörten wir zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die Menschen empfanden diese Zugehörigkeit aber nicht als solche, denn sie waren nur mit der unteren Reichsebene beschäftigt.
Das änderte sich erst als in der Französischen Republik und dem französischen Kaiserreich, von 1795 bis 1815, Verwaltungsgrenzen eingeführt wurden. Dies führte im 19. Jahrhundert zu der unheilsamen Herausbildung der Nationalstaaten, die letztendlich in die Katastrophe zweier Weltkriege mündete. Dies war die Zeit der Zugehörigkeit zu Preußen und zum Kaiserreich, dann zu Belgien, für kurze Zeit wieder zum Deutschen Reich und zuletzt erneut zu Belgien. Man erkannt schon, das mit der Berücksichtigung der Zugehörigkeit lassen wir lieber und konzentrieren uns auf das Wesentliche, eine gemeinsame Geschichte ja, aber auch eine gemeinsame Kultur und eine gemeinsame Sprache mit ihren Mundarten.
Deshalb ist die Anwendung des Begriffes Ostbelgien auf die neun Gemeinden der Institution der belgischen Verfassung nicht zielführend für eine Identitätsfindung. Für diese Institution würde es genügen eine institutionelle Identität zu definieren mit eigenem Namen, eigener Flagge, eigener Hymne und einem eigenen Feiertag, und vor allen Dingen müsste man dies auch leben.
Der Begriff Ostbelgien ist vielleicht zu verwenden für den Lebensraum zwischen Maas und Rhein, der heute sowohl zum französischen Sprachgebiet Belgiens, als auch zum deutschen Sprachgebiet Belgiens gehört. Dabei muss man wissen, dass schon im Königreich Belgien vor 1920 mehr als 100.000 Deutsche lebten, die teilweise neben der Hochsprache auch einen ripuarischen oder einen moselfränkischen Dialekt sprachen. Bei Ihnen kam es in Folge der beiden Kriege und der Gräueltaten des deutschen Reiches, die auch an der Bevölkerung verübt wurden, zu einer Abwendung von deutscher Sprache und Kultur. Auch die belgischen Sprachgesetzgebung von 1963 hat dem keinen Einhalt geboten. Vielmehr gehören all diese Gemeinden zum französischen Sprachgebiet Belgiens und für den Erhalt und die Förderung deutscher Sprache und Kultur wird in diesen Gemeinden nicht viel geleistet. Wenn man also diesen Lebensraum, der im Wesentlichen aus 15 Gemeinden besteht, als Ostbelgien bezeichnen möchte, so müsste man zum gegenseitigen Respekt der Sprache und Kultur zurückkehren, so wie diese Mehrsprachigkeit über Jahrhunderte friedlich Bestand hatte. Diese Gemeinden könnten dann so etwas wie einen Landschaftsverband Ostbelgien gründen mit klar definierten Aufgaben, vor allem in Bildung und Kultur, und zu ihren gemeinsamen Wurzeln zurückfinden.
Walther Janssen Podcast vom 30.12.2021
Hintergrundbild: St. Rochus Kapelle Kelmis-Neu Moresnet
Kommentar schreiben