Identitätsstiftende Merkmale für Ostbelgien
In
verschiedenen Podcasts habe ich versucht, meine Gedanken zur Identität der deutschsprachigen Belgier zu ordnen und mich dabei an verschiedenen Veröffentlichungen orientiert, von denen einige
gerade in den letzten Monaten erschienen sind. (1) (2) Das Thema ist nämlich nicht neu, es erfährt gerade jetzt eine neue Aktualität.
Einführung in die Thematik
Die
Regierung der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, die ihren Sitz in Eupen hat, brachte nämlich einen neuen öffentlichen Diskurs auf den Weg mit der Frage, wie wir im Jahr 2040 leben
möchten. Das “wir” muss man dabei schon erklären. Die Regierung hat nämlich vor einigen Jahren auch der in der Verfassung so genannten “deutschsprachigen” Gemeinschaft einen Namen, oder
besser gesagt, eine Marke verpasst und diese Marke heißt Ostbelgien. Dies geschah ohne parlamentarische oder öffentlich Diskussion, sondern einfach per Dekret. Ein Grund für diese
Entscheidung war wohl auch die Tatsache, dass die beiden anderen Gemeinschaften Belgiens sich inzwischen ebenfalls einen Namen gegeben hatten, nämlich
Flandern
und
Wallonien, beides Bezeichnungen, die so nicht in der Verfassung stehen. In der Verfassung
spricht man nämlich von einer
französischen Gemeinschaft,
einer
flämischen Gemeinschaft
und einer
deutschsprachigen Gemeinschaft.
Warum die deutschsprachige Gemeinschaft so genannt wurde, und nicht einfach
deutsche Gemeinschaft,
geht auf eine kontroverse Debatte zurück, die vor nahezu fünfzig Jahren im Rahmen der Diskussionen um die verschiedenen Verfassungsreformen Belgiens und den damit einhergehenden
Autonomiebestrebungen des deutschen Sprachgebiets in Belgien geführt wurde. Es war aus meiner Sicht ein Fehler, der die Identitätsfindung der deutschsprachigen Belgier erschwerte und
verfälschte. Dieses Thema möchte ich aber hier nicht vertiefen, es ist leider Schnee von gestern.
Fachwerkstatt “Regionale Identität und Eigenständigkeit”
Das
aber eine der Arbeitsgruppen der Fachwerkstatt „Regionale Identität und Eigenständigkeit“ für die Entwicklung des Leitbildes
Ostbelgien leben 2040
sich mit dem Thema “Heimat und Identität” beschäftigt, zeigt, dass einige Fragen offen sind oder dass es noch weiterer Maßnahmen notwendig sind. Das belegen auch die in der Fußnote genannten
neueren Veröffentlichungen.
In der Gruppenarbeit ging es darum, die bereits in vorherigen Veranstaltungen vorgeschlagenen Ideen und Gedanken nunmehr zu vertiefen, um daraus brauchbare Handlungen für die kommenden Jahre
zu entwickeln. In der Gruppe „Heimat und Identität“ sollten konkret Alleinstellungsmerkmale unserer Identität identifiziert werden. Was mir dabei auffiel war, dass es sich natürlich um eine
Veranstaltung der institutionellen Körperschaft „deutschsprachige Gemeinschaft“ (DG) handelte, dass aber viele der Vorschläge, die das Heimatgefühl und die Identität berührten, logischerweise
über dieses Gebiet hinausgingen. Und hier kommt der Begriff Ostbelgien ins Spiel.
Deshalb stellt sich die Frage, suchen wir diese Identitätsmerkmale für das institutionelle Gebiet der verfassungsrechtlich anerkannten “deutschsprachigen Gemeinschaft”, das sind die neun Gemeinden des deutschen Sprachgebiets in Belgien, oder suchen wir Identitätsmerkmale für die Bezeichnung jener Landschaft, welche die Regierung mit dem Begriff “Ostbelgien” warenzeichenrechtlich schützen ließ. Dieser Begriff Ostbelgien ist zumindest geographisch nicht genau definiert, aber die Tatsache, dass die Regierung ihn offiziell für die Institution DG verwendet, ist vorgegeben, unabhängig davon ob ich selbst, und wahrscheinlich auch andere, unter Ostbelgien etwas anderes verstehen.
Auf der Suche nach Leitlinien für Ostbelgien leben 2040 geht die Regierung also eindeutig von dem gesetzlich definierten deutschen Sprachgebiet Belgiens aus, welches heute aus neun Gemeinden besteht und als solches auch zu einer Institution der belgischen Verfassung wurde, unter dem Namen deutschsprachige Gemeinschaft.
Identitätsstiftende Merkmale der deutschsprachigen Gemeinschaft
Wir suchen also Merkmale der Identität und Alleinstellungsmerkmale der Identität dieser Gemeinschaft.
In der Arbeitsgruppe des Fachworkshops wurden verschiedene Merkmale unserer Identität hervorgehoben, es waren dies unter anderem
-
die Mehrsprachigkeit
-
die Lebensart, die Landschaft, die moderne Lebensweise
-
das Gemeinschaftsgefühl
-
der ländliche Charakter …
Ich möchte mich mit einigen dieser Merkmale unserer Identität etwas näher auseinandersetzen, über das hinaus was in den Arbeitsgruppen mit Maßnahmen unterlegt oder mit Handlungsfeldern ergänzt wurde. Dabei will ich mich auch kritisch äußern zu dem was einige Teilnehmer vortrugen, in der Hoffnung, dass meine Gedanken auch als weitere Anregung verstanden werden.
Was hat es mit der Mehrsprachigkeit auf sich?
Die Mehrsprachigkeit wurde, so kann man in den Berichten nachlesen, in allen Fachwerkstätten als besonderes Merkmal unserer Identität erwähnt. Natürlich spielt diese nicht nur bei der Identitätsfindung eine Rolle, sondern auch in der Wirtschaft oder im Unterrichtswesen, in der Kultur, in der Arbeitswelt, bei der Mobilität und der Migration, aber auch in vielen anderen Bereichen.
Ich möchte vorausschicken, dass ich weder Pädagoge noch Sprachwissenschaftler und Historiker bin und mich einzig und allein auf das stütze, was ich in den letzten 70 Jahren wahrgenommen habe oder was ich über Lektüre von Büchern und Essays und im Internet erfahren konnte.
Auch gab es gerade in den letzten Tagen im Juni 2022 eine Pressekonferenz der Ministerin für Unterrichtswesen zum Thema Französisch in den Schulen. Auch hatte ich Gelegenheit ihren Erklärungen anlässlich einer Video-Schaltung im Rahmen von ProDialog zu folgen.
Ab hier kommt nun meine eigene Wahrnehmung ins Spiel.
Die Diskussion über die Verwendung und Erlernung der französischen Sprache im Unterricht nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine Diskussion, die Jahrzehnte lang anhielt und auch seit dem Beginn der Autonomie immer wieder aufs Neue thematisiert wird. Ohne Polemik oder Ideologie muss es deshalb gestattet sein, diese jahrzehntelange Praxis zu hinterfragen, vor allen Dingen vor der Perspektive zukünftiger Leitlinien für 2040.
Wenn man nämlich dem Titel des Grenzechos Glauben schenken darf, so möchte die Regierung der “DG noch mehr für Französisch tun” und die Ministerin kündigt, ebenfalls laut GE-Bericht, “eine Anpassung des gesetzlichen Rahmens an.” Ergänzt wird dies durch den Hinweis auf “neue Maßnahmen zur Mehrsprachigkeit”. Hierzu fand nun auch eine Debatte im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft statt in der sich alle Parteien zu Wort meldeten.
Ob dieser Bemühungen und Anstrengungen der Regierung möchte ich, auch wenn es eine Einzelmeinung sein sollte, eine andere Vision von der vielgelobten Mehrsprachigkeit vorstellen.
Siebzig Jahre nach Kriegsende bin ich der Meinung, dass das Erlernen der französischen Sprache in den Schulen des deutschen Sprachgebiets in Belgien nicht mehr als erste Fremdsprache festgelegt werden sollte. Wir sind jetzt inzwischen alle zu guten Belgiern erzogen worden und wenn das noch nicht reicht, so kommen ja auch noch andere Bemühungen mit ins Spiel. Da die einseitige Festlegung auf Französisch sich auch noch zu Lasten der Verwendung der deutschen Sprache im Fachunterricht widerspiegelt (im Bericht steht, dass Mathematik sogar als Unterrichtsfach dazu gehört), möchte ich darum bitten unseren Horizont und unsere Grenzlandmentalität etwas zu erweitern, und hier bin ich wieder bei den Leitlinien zu der Frage, wie leben in Ostbelgien in 2040.
Mein Vorschlag ist es also, in den 18 Jahren bis dahin, schrittweise Englisch als erste Fremdsprache einzuführen und zu unterrichten. Dieser Vorschlag zielt keineswegs darauf ab, Französisch zu verdrängen. Sie kann genauso intensiv gelehrt werden wie bisher, aber vor allen Dingen unter der Bedingung, dass die Eltern, die Schülerinnen und Schüler und Studierenden selbst die Wahl treffen, ob sie Französisch oder Niederländisch vorrangig erlernen möchten.
Englisch glaube ich, bringt den jungen Menschen für die nächsten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts mehr Vorteile, auch wirtschaftlich und vor allem auf europäischer Ebene. Heute schon, sicher aber in zwanzig Jahren, wird es für unsere jungen Mitbürger von Vorteil sein, sich mit europäischen Mitbürgern aus Polen, Portugal, Schweden oder Kroatien auf Englisch zu unterhalten und auszutauschen. Dies fördert die europäische Integration und wie auch die Aktivisten Herr & Speer in ihrem Buch “Europe for future” vorschlagen, könnte sich Englisch sowieso zu einer europäischen Amtssprache für alle entwickeln und überall gelehrt werden (These 70 von 95).
Eine solcher Schritt öffnet auch die Perspektive in Richtung Belgien, weg von der eher einseitigen Zuwendung zum französischsprachigen Belgien und weg von einer eher einengenden Grenzlandmentalität hin zu einer neuen Offenheit in allen Richtungen mit einer notwendigen europäischen Identitätsfindung. So kann die Mehrsprachigkeit, zu einem echten Alleinstellungsmerkmal unserer Identität werden. Französisch muss ja gar nicht, für den der es möchte, weniger unterrichtet werden als heute, und ich meine auch dass die Schülerinnen und Schüler auch psychologisch freier sind und die französische Sprache so auf eine unverkrampfte Art und Weise lernen.
In den Diskussionen kamen nämlich unterschiedliche Bemerkungen zu Tage, ob die Schulabgänger heute über weniger Französischkenntnisse verfügten als zum Beispiel vor zwanzig oder vierzig Jahren. Einige meinten sogar, dass die Studierenden deshalb eher eine deutsche Universität aufsuchten als eine belgische und deshalb der Heimat verlorengingen. Ich verfüge nicht über solche Angaben, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Hochschulabsolventen eher in unserer Heimat blieben, weil sie intensiven Französischunterricht erhalten. Das ist ja alles eine Frage der beruflichen Karrieren und der eigenen freien Berufsplanung, die letztendlich bestimmend ist. Aufgrund der Migration in Europa ist es auch so, dass schon viele Universitäten, und wir haben ja einige führende in unserer Nachbarschaft, schon Professuren und Kurse in englischer Sprache haben. Es öffnet den Studierenden ganz einfach mehr Perspektiven.
Deshalb muss hier bei uns Französisch gar nicht zurückstecken. Wie die Ministerin erläuterte, wären ja heute schon die Kenntnisse der beiden Sprachen Französisch und Englisch auf B2 Niveau. Es soll auch dem Nichtakademiker ja nicht genommen sein, sich in unserer Heimat und jenseits der Sprachgrenzen sprachlich frei bewegen zu können.
Der Handwerker kann sich mit einem guten Französischkursus ebenso gut jenseits der Sprachgrenze und darüber hinausbewegen und arbeiten. Wenn er Niederländisch wählt, dass ebenso intensiv wie Französisch unterrichtet werden sollte, dann hat er noch ganz andere Möglichkeiten im Norden unserer Heimat. Und ein Großteil der Eifeler kommt mit dem eigenen Dialekt ohnehin in Luxemburg recht gut zurecht. Schließlich bleiben den Lehrenden und Studierenden auch in ganz Belgien, nämlich Flandern, Wallonien und Brüssel, mehr Möglichkeiten offen als dies heute der Fall ist.
Wenn dem so ist, wie die Ministerin sagt, dann bitte macht Englisch zur ersten Fremdsprache und lehrt Französisch und Niederländisch so gut, dass die Studierenden zwischen sowohl einer französischsprachigen wie auch niederländischsprachigen Universität in Belgien und darüber hinaus wählen können, so wie sie es auch in Englisch an vielen Stellen in Europa und in der Welt tun können. Aber bitte zwingt sie nicht durch eine einseitige Festlegung.
Sicher ist dieser Vorschlag und der Weg hin zu einer wirklichen Mehrsprachigkeit mit administrativen Hürden bestückt und auch die Kenntnisse der Unterweisenden müssen angepasst werden. Ich spreche aber auch, um dies nochmal zu betonen, von einer Zukunftsvision. Der Weg ist also das Ziel.
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