Im Grenzecho wurden anlässlich der Wahlen zum Regionalparlament im deutschen Sprachgebiet Belgiens die Positionen der Parteien, die sich am 9. Juni 2024 zur Wahl stellen zu verschiedenen Themen vorgestellt. Die Gegenüberstellung der verschiedenen Meinungen zur notwendigen politischen Bildung in den Schulen der Gemeinden von Eupen, Kelmis oder Raeren bis nach Sankt Vith, Büllingen oder Burg Reuland ist eine sehr aufschlussreiche Analyse. Ich finde allerdings, dass auch zu diesem Thema, wie zu vielen anderen Bereichen, alles zu wenig öffentlich diskutiert wurde und wird. Wenn es stimmt, wie in der Einleitung erwähnt, dass man sich über die Ziele weitestgehend einig ist, so frage ich mich, warum man nicht auch einmal eine Herausforderung gemeinsam und parteiübergreifend erörtern und ausarbeiten kann, anstatt Bürgerkunde erneut zu einem Wahlkampfthema zu machen. Die Meinungen der Parteien und Wählerlisten sind ja sehr vielfältig und alle Argumente sind auch zu respektieren. Ich verstehe allerdings nicht, warum ein Teil der befragten Kandidaten die politische Bildung der Schule und den Lehrern überlassen möchte, so als ob alles in Ordnung sei. Ehrlich gesagt möchte ich mich nicht auf die Schulen und die Lehrerinnen und Lehrer verlassen wollen. Die drei Generationen unserer Bevölkerung nach dem Krieg, inklusive aller Schulleitungen und aller Erzieher und Erzieherinnen, haben es nicht geschafft zu verhindern, dass sich inzwischen in allen Landesteilen Belgiens, aber auch in fast allen europäischen Ländern, nationalistisches, menschenverachtendes, anti-semitisches und rassistisches Gedankengut immer weiter ausbreitet. In den meisten Ländern liegt der Anteil der Wähler mit entsprechender Einstellung zwischen 20% und 50%, Tendenz steigend. Das liegt meiner Meinung nach auch an der Erziehung (ja, auch die sozialen Medien treten als Beschleuniger von Hass und Hetze auf). Wir sind jedenfalls weit davon entfernt, dass „alle Menschen Brüder werden“, wie wir in der Europahymne singen. Deshalb müssen wir mit der Erziehung anfangen, und zuallererst beim Geschichtsunterricht.
Alle Länder der EU müssen verpflichtet werden, europäische Geschichte zu lehren und nicht mehr nationale Geschichte. Die Nationalismen können wir uns sparen, wenn wir in die Zukunft schauen
wollen, und das regionale Geschehen kann die Schule im Fach Heimatkunde abhandeln. Da erzählt man in Bayern sowieso etwas anderes als im Rheinland und in Flandern etwas anderes als in
Wallonien.
Dieses Unterrichtsfach kann man Europäische Geschichte und Werte nennen, es soll jedenfalls dazu beitragen, dass nationalistisches Gedankengut zunächst aus den Köpfen verdrängt wird und nach und nach eine solidarische, gerechte und soziale europäische Identität entsteht, damit die Menschen und Bürger wirklich frei und unbeschwert zusammenwachsen können und miteinander auskommen. Man kann vieles in einen solchen Unterricht hineinpacken, aber man sollte es auch nicht überfrachten. Lebenskompetenz, finanzielle Bildung, rechtliches Grundwissen, die von einigen Kandidaten genannt werden, haben hier meiner Meinung nach nichts verloren. Das kann in anderen Fächern vermittelt werden. Um aber freidenkende, soziale, solidarische Bürger zu erziehen im Sinne der Wertecharta, die wir uns nach dem Krieg gegeben haben, werden wir wohl noch einmal drei Generationen benötigen, nationalistisches Gedankengut aus unseren Köpfen zu verbannen, vorausgesetzt wir fangen heute damit an.
Einige der von den Parteien vorgeschlagenen Methoden zur politischen Bildung finde ich gut, weil man sie eigentlich unmittelbar umsetzen kann, bevor vielleicht der „europäische Bürgerunterricht“
Wirklichkeit wird. Ich denke zum Beispiel an die zuletzt erschienene „neue Geschichte des Mittelalters“ von Dan Jones. Ein hervorragendes Buch. Wenn man die Schüler anhält anhand des Buches in
Arbeitsgruppen Präsentationen zu erarbeiten, haben sie das ganze Mittelalter verstanden und wissen Bescheid über Religion, Ethik, Migration, Kultur, Gesellschaft, Gotik, Ritter, Kreuzzüge, unsere
Klöster und Kirchen und vieles mehr, und das dann nicht nur bei uns hier im Westen des Kontinents. Die Lernenden kennen dann nicht nur ganz Europa, im Westen wie im Osten, sondern auch Byzanz,
die Osmanen, die Goten, die Vandalen, die Hunnen; sie wissen Bescheid über Polen, den Balkan, die Ukraine, über Persien und die Sarazenen. Alles mindestens genauso wichtig und aktuell,
wie das was meine Generation damals in der Schule gelernt hat (übrigens so gut wie nichts über den Kongo).
Und seien wir auch hier wachsam. Wir sehen was in Russland und China geschieht, wo Kinder eine neue Identität erhalten, ganze Bevölkerungsteile russifiziert werden oder Uigur:innen und Tibeter:innen ebenfalls gleichgeschaltet und umerzogen werden, um es milde auszudrücken. Man fühlt sich mit den Methoden und dem imperialen Kriegen und Kriegsdrohungen ins Mittelalter versetzt. Wie wollen wir diese Generationen jemals in die Zivilisation zurückholen, wenn es dann überhaupt möglich sein sollte.
Deshalb schlage ich vor die politische Bildung für Demokratie und Menschenwürde zum Thema in dem institutionalisierten Bürgerdialog zu machen, und die Erziehung zu Menschenwürde und Demokratie nicht in die Wahlkämpfe hineinzuziehen.
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